EINSPIELENEin Essay von Johann Görlich, WienDie Welt: eine gläserne Kugel. Bläulicher Schimmer, der schwächer wird beim Näherkommen. Dann: eine sehr stark gebogene Scheibe. Es ist leicht, in sie einzudringen. Ohne zu überlegen, finde ich die Stadt, das Haus, das Zimmer. Menschen darin. Mein Vater. Meine Mutter. Jemand, den ich nicht kenne. Ich komme von draußen. Ein Teil von mir - früher hätte ich gesagt: ein Glied - ist dort geblieben. Ich kümmere mich nicht darum. Man kann nicht immerfort seine Teile zusammenhalten. Das gelingt nicht einmal mit den Gedanken. Zwei oder drei, unvollständig wie ich, bewegen sich auf das Mikrofon zu. Könnte ich noch atmen, würde ich sie überholen; so schließe ich mich ihnen an. Die vertraut-fremde Stimme meines Vaters, sehr zärtlich: "Angela, bitte melde dich." Ich suche unruhig nach der Kraft, die ich bin. Etwas ruft in mir: HÖRT MICH! ICH BIN DA! VATER! Dann habe ich keinen Laut mehr und lasse mich vor Müdigkeit dicht neben dem Cassetten-Recorder in die Tischplatte hineinsinken. Ich spüre, wie sich die Magnetteilchen auf dem Band verschieben: winzige Wellen an der Oberfläche eines Baches, auf dem sich der Wind niedergelassen hat. Ich bin nicht imstande, mich noch einmal zu melden; die Struktur des Bandes ist zu stark. Jetzt versuchen es die anderen. Drei, fünf, acht drängen sich vor. Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß ab nun ohnehin nicht mehr nach mir gerufen wird. Die Einspielzeiten sind zu kurz, um sich mit jedem, der von ihnen gegangen ist, mehr als einige Sätze lang zu beschäftigen. Ich mache mich auf den Weg, durchdringe die Scheibe. Die gläserne Kugel der Welt; bläulicher Schimmer, der allmählich stärker wird. Ich erinnere mich gut an drüben. Wie erbärmlich: man war nie mehr als ein Teil von sich; der Rest hatte sich in Banalitäten verloren, man wußte nie, ob man ihn zurückgewinnen würde. Die Angst des Daseins, nie mehr ganz zu werden. Das Bewußtsein war immer nur ein Winziges jenes Bewußtseins, das man besitzen sollte. Unbekanntes stieg erschreckend aus dem Vakuum herauf. Da war die Furcht, das Gehirn könnte vor dem längst gewonnenen Wissen versagen; vor der Polarität, die man nicht sein sollte - Liebe / Haß; der Wunsch zu wachsen, untermischt von Gedanken an Vernichtung. Es gab Erinnerungen, die es nicht geben durfte. Und dann kam, was sie Todestag nennen. Schon eine Weile vorher: an der Decke des Zimmers Dahinschweben; der Körper, verkrüppelt, gelähmt, blind und sprachlos geworden im Bett unter mir. Er atmet; also befindet sich noch ein Teil meines Ichs in ihm. Ohne Schmerzen warte ich, bis die Schale dieses Restes an seinem Röcheln erstickt ist, das Blut endlich nicht mehr rinnt, bis es da unten vollbracht ist. Vor einigen Tagen hat Vater versprochen, es würde mir sehr bald viel besser gehen. Wie jeder Gesunde weiß er nichts von Gesundheit. Doch so blind er ist, er behält recht. Das hier, an der Zimmerdecke, ist der Anfang des Lebens. Nun weint er über dem kühler werdenden Leib. Seine Liebe läßt mich einen Augenblick das Licht, das von draußen kommt, nicht sehen. Ich drücke ihm einen Kuß auf die Stirn. Großvater schwebt vor dem Fenster. Er winkt mir. Ich betrachte meinen Körper wie ein Exkrement. Ich begreife nicht, wie man in diesem Augenblick traurig sein kann. Die Nacht wird weich. Die Diamanten der Sterne über mir, verlasse ich das Haus. Es ist nicht einfach, aber ich habe es gelernt: auf die Zeit herabzuschauen wie damals auf einen Würfel, doch ohne Neugier. Eine Sechs zählt sowenig oder soviel wie eine Eins. Sie haben verschiedene, aber gleichwertige Bedeutungen. Nun ist nichts mehr da, was mich noch ängstigen könnte. Das zu lernen, war freilich das Schwierigste. Nun habe ich begriffen: ICH BIN. Wenn sie mich von drüben rufen, nehme ich die Stimme eines Kindes an, damit sie mich erkennen. Eingeschlossen in die Muschel ihres Tagesablaufes, sind sie glücklich, mich als Mädchen von zwölf Jahren zu vernehmen. An diesen Abenden habe ich eine Maske über mein Ich gezogen. Erst nach dem Durchdringen der Glaswand zwischen unseren Ebenen bin ich wieder frei. Großvater verwandelt sich in einen jungen Mann. Drüben bei denen war er auch im Alter noch eine Art geistiges Kind. Maler; aber sein Asthma ertrug den Terpentingeruch nicht mehr. Deshalb blieb am Ende alles Gewollte Aquarell. In dieser Welt der Farben und Düfte möchte er von vorn beginnen. Er wird jung. Versuchsweise werde ich über vierzig, älter als er. Im silbernen Licht über Wiesen wandelnd, schafft er an der rechten Seite des Weges einen Weinberg, ich an der linken eine Reihe von Weiden und einen fast unmerklich rinnenden Fluß. Der Vollmond ist uns dabei nahe wie nie zuvor. Plötzlich wird es Tag. Man ruft mich; zu einem Kind. Fünf Jahre alt, geboren in Bethlehem. Der Autobus, aus dem ich es hole, ist mit Schreien erfüllt. Deborrah hat keine Beine mehr. Ihre Mutter kann jetzt nicht mehr bei ihr sein. Sie lebt, fast unverletzt. Deborrahs Leib hat sie gedeckt. Nun möchte das Kind zu seinen Eltern zurück. Es ist mühevoll, Deborrah von diesem Wunsch abzulenken. Als ich mir nicht mehr zu helfen weiß, tanze ich mit ihr unter Palmen, die voll von Sternen hängen. Doch sobald ich nicht achtgebe, entwischt sie mir, kehrt in ihre Wohnung zurück. Dann fallen dort einige Teller vom Tisch. Die Eltern haben Angst. Es fallen auch Steine vom Dach. Deborrah gewöhnt sich eben nur langsam an die neue Welt. Der Spukfall wird durch eine Expertenkommission untersucht, deren Mitglieder vier Theorien entwickeln: a) da während der Anwesenheit der Kommissionsmitglieder keine Spukphänomene aufgetreten sind, kann angenommen werden, daß der Schock, den die Mutter durch die Explosion der Bombe erlitten hat, den Realismus ihres Verstandes nachhaltig beeinträchtigte. Es wird ein vorübergehender Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt empfohlen; b) da während der Anwesenheit der Kommissionsmitglieder keine Spukphänomene aufgetreten sind, kann angenommen werden, daß der Schock, den die Mutter durch die Explosion der Bombe erlitten hat, sie zu unbewußten animistischen Spukphänomenen anrege. Es wird ein vorübergehender Aufenthalt am Toten Meer empfohlen, dessen Minerale ... ; c) ungeachtet dessen, daß während der Anwesenheit der Kommissionsmitglieder keine Spukphänomene aufgetreten sind, ist der Schluß zu ziehen, Deborrah sei durch karmische Schuld nicht imstande, sich aus der elterlichen Wohnung zu lösen. Es wird die Beiziehung zweier bekannter Sprechmedien empfohlen; d) ungeachtet dessen, daß während der Anwesenheit der Kommissionsmitglieder keine Spukphänomene aufgetreten sind, muß Besessenheit angenommen werden. Es wird deshalb eine Austreibung vorgeschlagen. Deborrah lacht zum erstenmal. KANN DOCH NICHT DAFÜR, DASS DA NOCH EIN STÜCK VON MIR DRINNEN IST. Bei ihr mag das noch lange währen. Die Zeit ist hier eine Spirale. Sie baut sich plötzlich über einem Ort auf; ebenso plötzlich verschwindet sie wieder. Großvater meint, man könne die Zeit zwischen Koordinaten einfangen wie Fische in einer Reuse. Das muß ich noch lernen. Manche von uns verstehen es, die Zeitkarten in sich aufzuschlagen wie einen Atlas, sich darin zu orientieren. Die Straße nach links führt in die Vergangenheit, jene nach rechts in die Zukunft; doch ab einem gewissen Punkt sind alle Wege gleich. Angeblich gibt es einen zeitlichen Südwestpol, nach dem sich sehr geschickte Wesen orientieren. Mutter stellt eine Frage: "Angela, was mußt du jetzt tun?" Ich forme die Magnetteilchen auf dem Band zu LERNEN um. Das ist schwierig. Es ist ein langer und vielschichtiger Prozeß, ehe man halbwegs begreift, mit den eigenen Energien umzugehen. "Was mußt du lernen?" Die Musik des Lichtes, die Dichtungen der Farben, die unendliche und unbegreifliche Freiheit aller Gedanken. Es ist eine Welt, die man denen da drüben nicht zu erklären vermag. Nicht einmal das Einfachste: daß wir über sie lächeln, daß sie uns bei aller Liebe als etwas sehr Komisches erscheinen. Wir blicken auf sie, und wir warten, bis sie eines Tages zu Menschen werden. Eine Zeitspirale. Man kann sie vorher nicht sehen, doch in sie hineinzugeraten bedeutet, gerufen worden zu sein. Ich gleite glatte Flächen entlang. Die bläulich schimmernde Glaskugel. Ein Ort, den ich nicht kenne und an dem Krieg ist. Menschen warten: Verstümmelte. Ich bin für Kinder zuständig. Zwei oder drei sind bereits hier. Es gibt bei uns keine Sprachschwierigkeiten, ich nehme ihre Hände, da verstehen wir einander. Jenseits des Dorfes wird noch geschossen. Ich nehme eines der Kinder in meine Arme und atme ihm eine schöne Farbe auf die Stirn. Es lächelt.
|