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Tonbandstimmenforschung - ein Aufgabengebiet speziell für Blinde?
Referat unseres blinden Kollegen Uwe Wagner, Berlin,
gehalten auf der Jahrestagung des VTF 1979 in Fulda
Gestatten Sie mir zunächst einen kurzen Überblick über
das Leben blinder Menschen in unserer Zeit.
Die Zeiten, da Blinde ein Dasein am Rande der Gesellschaft führen
mußten, sind Gottseidank vorbei. Besonders in unserem Lande ist es
gelungen, die blinden Mitbürger dem Ziel der gesellschaftlichen und
beruflichen Integration näherzubringen, und das nicht nur durch soziale
Maßnahmen des Staates, sondern vor allem durch zwei Dinge:
Die Gründung von Selbsthilfeorganisationen durch Blinde und die
großen Fortschritte auf dem Gebiet der Blindenhilfsmittel, wobei
in letzter Zeit vor allem elektronische Orientierungsgeräte Schlagzeilen
machten.
Die wichtigsten Blindenhilfsmittel sind jedoch schon etwas älter.
Am bekanntesten ist wohl die von dem Franzosen Luis Braille im vorigen
Jahrhundert erfundene Blindenschrift, ein aus 6 Punkten bestehendes Schriftsystem,
das mit den Fingern ertastet wird. Mit dieser Schrift war es nun zum ersten
Mal möglich den Blinden Bildungsmöglichkeiten zu erschließen.
Bis heute ist die Braille-Blindenschrift das wichtigste und am meisten
verbreitete Hilfsmittel. Es können sogar Bücher gedruckt werden,
die allerdings ein ziemlich großes Format haben. Auch müssen
von den meisten Büchern mehrere Bände angefertigt werden. Ein
klassisches Beispiel: die Bibel, Altes und Neues Testament, umfaßt
26 Bände in Blindenschrift. Ein Bücherschrank mit Blindenschriftbüchern
würde also ein recht beachtliches Ausmaß haben. Ferner ist die
Herstellung von Blindenschriftbüchern sehr kostspielig und aufwendig,
so daß das Angebot im Vergleich mit den Ihnen zur Verfügung
stehenden Büchern recht bescheiden ist. Vor allem können die
Bücher nicht auf dem neuesten und aktuellsten Stand sein. Daher bedeutet
die Erfindung des Tonbandgerätes auch hier wesentliche Fortschritte.
Tonbänder - heute vor allem Kassetten - nehmen weniger Platz in Anspruch
als riesige Blindenschriftbände.
So entstanden vor etwas mehr als 20 Jahren die ersten Blindenhörbüchereien.
Hier werden Bücher auf Tonbänder gelesen und kostenlos an Blinde
verliehen. Außerdem gibt es, noch spezielle Blindenzeitschriften
auf Tonband die sich an bestimmte Zielgruppen wenden wie z.B. technisch
interessierte Tonbandamateure oder auch etwa Hausfrauen. Neuerdings gibt
es sogar eine wöchentlich erscheinende Tonbandzeitung für Blinde.
Nach diesem kurzen Überblick möchte ich auf unser spezielles
Interesserigebiet kommen. Aus meiner Schilderung konnten Sie ersehen, daß
viele Blinde schon mit dem Gebrauch des Tonband-Gerätes vertraut sind.
Von der technischen Seite her haben wir die wenigsten Schwierigkeiten,
in die Tonbandstimmenforschung einzusteigen.
Die Anfangsschwierigkeiten sind genau die gleichen wie bei Sehenden;
nämlich das spezielle Heraushören der besonderen Sprechweise
und Eigenart der Stimmen. Auch wir, deren Ohr naturgemäß besonders
geschult ist, haben zuerst Schwierigkeiten, Stimmen aufzufinden. Aber mit
etwas Training des Gehörs stellt man sich bald auf die besondere Klangart
der Stimmen ein. Einen Vorteil hat man als Blinder, wenn man mit dem Radio
einspielt. Viele Blinde sind bekanntlich sehr intensive Radiohörer
und kennen sich auf den Wellen sehr gut aus. Sie kennen die Sender und
deren Programme und oftmals sogar die Sprecher. So ist es möglich,
schon von vorneherein manche Täuschung auszuschließen oder Umformungen
als solche zu erkennen. Aber auch hier kann es Grenzfälle geben, in
denen wir andere zu Rate ziehen müssen um dann gemeinsam zu entscheiden:
Rundfunk oder paranormal. Eine andere Frage ist die nach dem Protokoll.
Es ist für uns nicht möglich ein Protokoll nach Zählwerk
zu führen. Wir können ledigllch die Stimmen einer Einspielung
der Reihe nach, gegebenenfalls mit Stichwort eines von uns vorher gesprochenen
Wortes oder einer gestellten Frage, aufschreiben. Oder wir machen es so,
daß wir die Stimmen aus einer Einspielung gleich auf eine Kassette
abkopieren, versehen mit Datum der Einspielung, Nennung der anwesenden
Personen usw.
Dieser Protokollierungsmethode geben wir persönlich den Vorzug,
weil nach unserer Erfahrung durch das Kopieren der Stimmen deren Hörbarkeit
besser wird. So sieht der rein technische Verlauf der Forschung für
uns aus. Aber das Besondere für uns als Blinde ist immer wieder das
Wiedererkennen von Stimmen, die man aus dem Leben gekannt hat. Durch das
Fehlen der Sehkraft ist das Erkennen der Stimmen unserer Mitmenschen von
entscheidender Bedeutung. Das Erkennen der Stimmen unserer Mitmenschen
ist mit Sicherheit das wichtigste Erkennungszeichen füir den Anderen;
sie repräsentiert sozusagen den Mitmenschen. So ist es sicher nicht
verwunderlich, daß das Wiedererkennen, vor allem der Stimmen Verstorbener,
ein nicht mehr wegzudenkendes Erlebnis ist. Sicher sind auch Sehende vom
Wiedererkennen einer lieben Stimme tiefberührt. Ich wollte hiermit
nur zum Ausdruck bringen, welche besondere Bedeutung das Wiedererkennen
von Stimmen für uns hat. Menschen, mit denen man gesprochen hat, und
deren Stimmen plötzlich wieder auf dem Tonband zu hören sind!
Man kann alles über Tonbandstimmen wissen und schon viele paranormale
Stimmen vernommen haben, aber es ist jedes Mal fast eine Überraschung
und ein Aufhorchen, wenn eine wohlbekannte Stimme zu hören ist. Solches
Erleben wirkt nicht nur auf den Verstand, sondern es dringt in die tiefsten
Schichten unseres Bewußtseins ein. Interessant ist hierbei vor allem
die Entwicklung der Stimmen während ihres jenseitigen Dasein zu beobachten.
Hier hilft es uns sehr, wenn man die Stimmen gut im Ohr hat. So konnten
wir schon oft feststellen, daß so manche Stimme zu Anfang noch fast
wie normal, d.h. wie gewohnt klang, bei späteren Einspielungen jedoch
Veränderungen auftreten. Die Stimmen werden feiner, ja fast könnte
man sagen jünger! Sie klingen dann immer körperloser.
Ein weiterer, wichtiger Anhaltspunkt ist für uns als Blinde die
musikalische Eigenschaft der Stimmen. Wir alle kennen Beispiele von gesungenen
Stimmen. Wir haben nun festgestellt, daß fast alle Stimmen eine Melodie
haben. Selbst Flüsterstimmen, so paradox.das klingen mag, haben eine
Melodie. Man kann also, wenn man auf eine paranormale Stimme stößt,
diese am besten heraushören, wenn man lhre Melodie verfolgt. Zusammen
mit dem speziellen Rythmus der Stimme erleichtert diese musikalische Abhörweise
das Verstehen der Stimmen. Soweit unsere persönliche Erfahrung. Kann
man also sagen, Tonbandstimmen, eine Aufgabe speziell für Blinde?
Ich möchte diese Frage mit einem vorsichtigen Ja beantworten Viele
Menschen glauben, daß Blinde aufgrund Ihrer Behinderung eine Art
6. Sinn hätten, sozusagen für die Stimmenforschung prädestiniert
wären. Ich glaube, und bin dessen sicher, daß dies nicht der
Fall ist. Auch Blinde müssen erst für diese Sache motiviert werden.
Und das ist nicht so leicht wie es sich ausspricht. Blinde Menschen, das
muß in aller Schonungslosigkeit gesagt werden, haben die selben Vorurteile
diesen Dingen gegenüber wie Sehende. Aber auch unter ihnen gibt es
Menschen, die sich einiges fragen und sich nicht mit dem bloßen Materialismus
zufriedengeben.
Diese Menschen müssen erreicht werden und sie müssen vor allem
richtig und sachgemäß informiert werden. Ich glaube nicht, daß
die Publikationen der Massenmedien - in den bisherigen Sendungen fand ich
das jedenfalls nicht - ausreichend richtige Informationen für Blinde
hergeben. Hier wäre es gut, wenn der VTF selbst die richtigen Informationen
für Blinde liefert. Die geplante Einführung in die Forschung
für Blinde ist ein sehr guter Anfang. Man sollte aber dabei berücksichtigen,
daß viele Blinde auch technisch sehr gut versiert sind, so daß
man bei einer solchen Einführungskassette unbedingt Stellungnahmen
zum Stimmenphänomen von Elektrotechnikern und Ingenieuren mit einfügt.
Ich habe versucht, mit Blinden über Stimmenforschung ins Gespräch
zu kommen und man hat mir eine ganze Reihe von technischen Gründen
genannt, warum es die Stimmen nicht geben könne. Nur durch die Kenntnis
einiger technischer Kommentare zum Stimmenphänomen war ich in der
Lage, weiterzudiskutieren. Ich weiß, daß in unseren Reihen
einige Technik-Experten sind. Vielleicht könnte jemand einen guten
Beitrag für diese Einführungskassette machen. Darüberhinaus
wäre es auch sehr wichtig, blinden Menschen die Literatur über
die Stimmen zugänglich zu machen. Die bestehenden Hörbüchereien
sind dazu nicht in der Lage, weil sie Prioritäten setzen müssen.
Außerdem wird solche Literatur bei den leitenden Leuten der Hörbüchereien
kaum auf Verständnis stoßen. Man möchte sich, wie man mir
sagte, mit solchem Unsinn nicht befassen! Das Beste wäre also, daß
der Verein zur Selbsthilfe greift und nach und nach eine eigene kleine
Hörbücherei einrichtet, die die Stimmenbücher an interessierte
Blinde verleihen könnte. Ich weiß, daß auch dies eine
Frage der Zeit und des Geldes ist. Solche Dinge werden sich erst in geraumer
Zeit verwirklichen lassen. Bis dahin möchte ich alle Kolleginnen und
Kollegen aufrufen: Sollten Sie in Ihrem Bekanntenkreis einen blinden Menschen
wissen, der sich für diese Forschung interessiert und so gut wie nichts
darüber weiß, so lesen Sie ihm doch bitte den einen oder anderen
Artikel aus einer Zeitschrift auf Band, damit er sich näher aber dieses
Gebiet informieren kann.
Vergessen möchte ich aber nicht, abschließend für das
bereits Bestehende zu danken. Die kleine Anzahl von Blinden, die Mitglieder
im VTF sind, bekommen die VTF-Post auf-Kassette. Das ist für uns schon
ein sehr großer Fortschritt, sind wir doch nunmehr in der Lage, intensiv
am Vereinsleben Anteil zu haben.
Wir wissen die viele Mühe, die das alles macht, zu schätzen,
und so möchte ich Herrn Köberle und seinen Helfern von hier aus
herzlich danken.
Wenn es möglich wird, viele Blinde über unsere Forschung zu
informieren, dann wird die Tonbandstimmenforschung ein spezielles Aufgabengebiet
auch für Blinde sein.
(Quelle: VTF-Post P 16, Heft 2/79)
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